XXL-Leseprobe Papierspuren

Grace

2002

Es begann damit, dass Grace McLeaf vergaß, die gelbe Box aus ihrem Kofferraum zu nehmen. Sie hatte nicht vorgehabt sie zu stehlen, schließlich gehörte sie ihren Freunden, aber als die Box so allein und geheimnisvoll in ihrem Kofferraum stand, fragte sich Grace, was wohl darin versteckt sei. Die Box war nicht groß, fast wie ein Schuh­karton, aber mit einem kleinen Verschluss an der Vorder­seite, an dem ein goldenes Schloss mit Verzierung befestigt war. Grace war klar, dass sie alle Regeln der Freundschaft in dem Moment brechen würde, in dem sie das Schloss knackte, aber sie konnte immer noch sagen, dass ihr die Box runtergefallen sei. Als die Neugier ihren Anstand end­gültig besiegte, schob Grace einen Schraubenzieher zwi­schen die dünnen Bügel und brach das Schloss mit einer geschickten Handbewegung auseinander. Dann öffnete sie die Box.

Von klein auf war Grace eine Spielerin gewesen. Das war mittlerweile so bekannt, dass ihre Freunde jeden davor warnten, mit ihr Karten zu spielen. Eine liebevolle, nicht ganz ernst gemeinte Warnung in ihrem Privatumfeld, je­doch hatten sie nicht ganz unrecht. Die Kartentricks lernte Grace von ihrer Tante Kelly, die an den Wochenenden auf Grace und ihren Bruder Jordan aufpasste, während ihre Eltern „Geschäftsbeziehungen“ pflegten. Lange Zeit wusste Grace nicht genau, was das heißt, aber über die Jahre fand sie nach und nach heraus, dass ihre Mutter und ihr Vater nicht ganz legalen Geschäften nachgingen. Steuerfrei, cash auf die Hand, Hinterhofganoven und Schwarzwarenhändler. Erst viel später wurde ihr klar, dass das, womit ihre Eltern ihr Geld verdienten, die ganze Familie in Teufels Küche bringen konnte, aber zu dem Zeitpunkt war Grace selbst so tief in das Familienunternehmen verstrickt, dass es kein Entkommen mehr gab.

Ihr Bruder Jordan wollte mit den Machenschaften sei­ner ‚Erzeuger‘ jedoch nie etwas zu tun haben. Er zog stur seine Schule durch und packte an seinem achtzehnten Ge­burtstag die Koffer. Jordan lebt jetzt in Neuseeland, weit, weit weg von seiner Vergangenheit. Weit weg von seiner Familie.

Grace hingegen hatte das Talent und die Skrupellosig­keit ihres Vaters geerbt und fand Gefallen an der Macht, die der Job mit sich brachte. Ihr gutes Aussehen und ihr unschuldiges Gesicht ebneten ihr den Weg genauso wie ihre schnelle Auffassungsgabe komplexer Verbindungen. Das zufriedene Lächeln, das ihr Vater ihr manchmal vom anderen Ende des Raumes zuwarf, spornte sie mehr an als alle hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Komplimente.

Und obwohl Grace dem Kodex ihrer Eltern, niemals Privates und Geschäftliches zu vermischen, strikt folgte, kribbelte es ihr nun in den Fingern, als sie in die Box blickte.

Ihr Gewissen mahnte sie, wie so oft, dass es einen Unterschied gab zwischen dem Abzocken eines Fremden und dem Abzocken eines Freundes. Normalerweise hörte Grace auf ihr Gewissen und hatte bislang diese Grenze noch nie überschritten. Freunde blieben Freunde, da gab es keine Ausnahmen.

Aber Grace hatte Probleme. Nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters, den nervenzerreißenden Ermittlungen der Polizei und dem Schockzustand, in dem sich ihre Mutter seitdem befand, ging es ihnen nicht gut. Nichts schlägt eine größere Kluft zwischen Geschäftspartner in ihrem Metier als eine Polizeiermittlung. Dabei wurde ihr Vater nicht er­mordet, dafür war er zu clever. Grace vermutete einen Unfall. Totschlag, höchstens. Wahrscheinlich hatte er sich einfach nur mit dem Falschen angelegt. Aber es gab keine Zeugen und auch Graces gute Beziehungen hatten die Wahrheit nicht ans Licht bringen können. Viele wandten sich von ihnen ab. Grace nahm das nicht persönlich, sie würde dasselbe tun. Trotzdem fehlte es an Einkommen. Das Haus fraß die Reserven schneller als gedacht und die Rechnungen stapelten sich.

Und jetzt lag vor ihr plötzlich diese Goldgrube. Sie könnte Clint anrufen und ihm sagen, dass sie endlich die Story gefunden hatte, die seine Probleme mit der Auflage lösen würde. Oder sie könnte gleich diesen schmierigen Typ von der Sun kontaktieren und einen Deal aushandeln. Die würden ihr sicher den roten Teppich ausrollen, um den Inhalt dieser Box in die Hände zu bekommen.

Es wäre so einfach. Aber das konnte sie nicht machen. All das konnte sie nicht tun, denn es wäre das Ende einer Freundschaft, die ihr sehr, sehr viel bedeutete.

Grace nahm die Box und ihren Schraubenzieher und trug beides hoch ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter immer noch geistesabwesend auf den Fernsehbildschirm starrte.

Tony

Wäre das Schloss nicht beschädigt gewesen, hätte Tony Marcello der Box überhaupt keine Aufmerksamkeit ge­schenkt. Aber ein zerbrochenes Schloss bedeutete immer, dass jemand sich Zugang verschafft hatte, der den Schlüs­sel nicht mehr besaß. Bei Grace McLeaf bedeutete es, dass man einen zweiten Blick riskieren konnte. Da Grace im Bad sicher noch eine Weile beschäftigt wäre, schlenderte Tony zu der kleinen Kommode und hob mit einem Finger den Deckel der Box ein Stück an.

Auf den ersten Blick war der Fund enttäuschend: ein Stapel rot-blau-weiß gestreifte Luftpostumschläge. Nichts Besonderes, dachte Tony und wollte den Deckel schon wieder zuklappen, als sein Blick auf den Adressaten fiel.

„Nimm die Finger da weg oder ich hacke sie dir ab“, fauchte Grace im selben Moment, als Tony in die Box grei­fen wollte.

So zu tun, als ob er nicht herumgeschnüffelt habe, war zwecklos. „Woher hast du die?“

Graces Augen blitzten düster auf. „Nimm deine Pfoten da weg“, drohte sie erneut, und diesmal ließ Tony den Deckel fallen und schenkte ihr sein schönstes Lächeln.

Grace lächelte nicht zurück. Sie nahm die Box und ver­schwand mit ihr im Nebenzimmer.

Tony sah ihr nach, bis sie hinter der Tür verschwunden war. Dann legte er den Kopf schief und spitzte nachdenk­lich die Lippen.

1999

And even in the darkest of times

You were the light

And I was home

– Halmond Jackson –

9. Oktober 1999

Lieber Orlando,

ich bin mir nicht sicher, ob du noch weißt, wer ich bin. Wir trafen uns vor ein paar Tagen vor dem Richmond Theater in London. Ich war eines der Mädchen, die dir im Foyer „aufgelauert“ haben, um dir zu deiner Vorstellung zu gratulieren. Wir haben uns eine Weile unterhalten und du wolltest wissen, woher ich komme, weil du meinen Ak­zent so süß fandest. Ich bin die aus Deutschland, Marie.

Wahrscheinlich weißt du das jedoch nicht mehr, denn bestimmt triffst du jeden Tag Leute, die dich wegen deiner Arbeit ansprechen.

Du fragst dich sicher, warum ich dir jetzt einen Brief schreibe. Ich kann dir versichern, dass ich mir deswegen schon recht komisch vorkomme, zumal wir beide uns ja überhaupt nicht kennen. Da du mir aber freundlicherweise erzählt hast, dass du eifriger Sockensammler bist (was ich im Übrigen überaus amüsant finde), und ich gestern in der Stadt war, habe ich an dich gedacht und dir ein Paar Socken gekauft. In Gelb, wie du sehen kannst. Ich hoffe, sie passen zu deinem Outfit, ansonsten kannst du sie auch gerne einfärben.

Damit du aber nicht glaubst, das wäre der einzige Grund für meinen Brief, habe ich dir noch etwas beige­fügt. Da ich begeisterter Fan von Halmond Jackson bin, dachte ich mir, ein Gedichtband von ihm würde dir viel­leicht gefallen, damit du nach getaner Arbeit ein wenig aus dieser Welt entfliehen kannst.

Und ehe ich mir jetzt endgültig wie ein dummer Fan vorkomme, werde ich dich in Ruhe lesen lassen, wobei ich hoffe, dass du mir irgendwann mitteilst, ob dir die Ge­dichte gefallen haben. Und ob die Socken passen. (Ich konnte deine Schuhgröße nur schätzen. Ich dachte, es wäre ein wenig albern, dich danach zu fragen.)

Viele Grüße aus dem verregneten Deutschland

Marie

3. November 1999

Liebe Marie,

entschuldige die späte Antwort, aber ich habe sehr viel zu tun.

Leider habe ich nicht die Möglichkeit, jeden Fanbrief ausführlich zu beantworten. Von daher danke ich dir für deine Post und lege ein Autogramm von mir bei.

Ich hoffe, es hat dir in London gefallen.

Viele Grüße

Orlando

7. November 1999

Hallo Orlando,

ich gratuliere dir! Offensichtlich fangen die Starallüren bei dir schon an, bevor du überhaupt einer bist. Es tut mir leid, dass ich dir geschrieben habe, aber noch mehr ärgere ich mich darüber, dass ich meine Lieblingsgedichte in deine schwer beschäftigten Hände gelegt habe. Wäre es kein Geschenk, würde ich den Gedichtband umgehend zurückfordern.

Eine unpersönlichere Antwort hättest du dir wirklich nicht ausdenken können. Ich glaube nicht, dass irgendein „Fan“, zu denen ich mich im Übrigen nicht zähle, von die­sem Wisch begeistert ist.

Ich fand dein Schauspiel im Theater einfach nur toll und wollte dir für den unvergesslichen Abend etwas zurückgeben, doch alles, was ich von dir bekomme, ist eine vorgefertigte Antwort, die du noch nicht einmal selbst unterschrieben hast! Na, herzlichen Dank.

Wärst du einer von Hollywoods höchstbezahlten Schau­spielern, könnte ich das ja noch verstehen, doch du bist bloß an einem Theater in London angestellt!

Dein Autogramm sende ich postwendend an dich zu­rück. Vielleicht kannst du jemand anderen damit glücklich machen.

Entschuldige die Störung in deinem viel beschäftigten Leben.

Marie

14. November 1999

Liebe Marie,

bitte entschuldige die vorgefertigte Antwort. Ich habe das nicht immer unter Kontrolle. Seitdem ich meinen ersten Film gedreht habe, wächst mir die Fanpost wirklich über den Kopf, und eine Freundin von mir verschickt diese Antworten, wenn ich keine Zeit habe.

Hey, du bist ganz schön frech. Sind alle Frauen in Deutschland so?

Ich muss dir sagen, dass ich den Gedichtband erhalten habe und ihn sehr schön finde. Auch deine Idee mit den Socken fand ich sehr aufmerksam. Sie passen sogar. Mit Färbemittel kann ich natürlich nicht umgehen – wahrscheinlich würde ich alles andere einfärben, nur nicht die Socken -, von daher muss ich mich wohl mit dem Gelb anfreunden. Zumal es farblich prima zu den Wänden in meiner Küche passt.

Was das Autogramm betrifft: Ich habe es auf einer Auktion angeboten, und zwar als einziges Autogramm, das je zu seinem Besitzer zurückgeschickt wurde. Das hat mir eine stolze Summe eingebracht, wovon ich meine nächste Monatsmiete bezahlen kann. Nein, ein Scherz.

Ich hoffe, der Brief war dir jetzt persönlich genug. Und natürlich erinnere ich mich an dich, Marie. Klar, du warst die aus Deutschland.

Viele Grüße

Orlando

PS: Das ist jetzt wirklich meine Unterschrift. Zufrieden?

19. November 1999

Lieber Orlando,

nach deiner Antwort bin ich für eine Weile erst mal im Erdboden versunken. Jetzt geht es aber wieder.

Ich habe diesen fiesen Brief nur geschrieben, weil ich dachte, du liest deine Post ja eh nicht. Und weil ich so sauer war. Das tut mir furchtbar leid.

Natürlich kann ich mir denken, dass du viel zu tun hast. Ich wusste nicht, dass du schon in einem Film mitgespielt hast. Ist er gut? Kann man ihn auch in Deutschland sehen? Ich hoffe doch mal, ja. Und wie heißt er überhaupt?

Ich bin froh, dass du dich an mich erinnerst. Jetzt hat die Zicke aus Deutschland auch noch ein reales Gesicht für dich. Schlimmer kann es nicht mehr kommen. (Und erneut suche ich nach einem Erdloch, in dem ich versinken kann.)

Ich freue mich jedoch, dass du dir keine Sorgen um die nächste Miete machen musst. Zur Not hättest du auch den Gedichtband versteigern können, als Exklusivimport aus Deutschland.

Und deine Küche ist gelb? Na, das kann ja heiter wer­den. Du weißt ja, was man über Menschen sagt, die gelbe Küchen haben, oder?

Logischerweise sind nicht alle Frauen in Deutschland so frech, nur ich. Ich bin allerdings auch ein Einwanderer und gelte daher nicht als reinblütige Deutsche, was den Ruf der Nation doch erheblich entlastet.

Dumme und schamlose Aussagen kleben wie Pech an mir und leider werde ich nur allzu oft auf die Menschheit losgelassen. Irgendwann werde ich deswegen wohl noch verhaftet. Kannst du dann Kaution für mich stellen? Ich hab dir schließlich Socken geschenkt! Das muss doch für irgendwas gut sein.

Ich bin albern, entschuldige. Das ist nur die Nervosität und ein verzweifelter Versuch, den bösen Brief wiedergut­zumachen. Hilft es?

Viele Grüße

Marie

PS: Anbei schicke ich dir, als Entschädigung für die Rückwurfsendung, ein Autogramm von mir. Vielleicht kauft es dir ja jemand ab. Allerdings wirst du für den Erlös wohl kaum mehr als einen Apfel bekommen.

9. Dezember 1999

Liebe Marie,

nein, ich werde mich nicht jedes Mal wegen später Ant­wort entschuldigen. Können wir allgemein mit diesen Ent­schuldigungen aufhören? Das wäre schön.

Dein Brief war nicht böse und ich war auch nicht belei­digt, weil du ja recht hast. Ich bin kein Hollywoodstar und vielleicht werde ich das auch nie sein. Ich habe dir zuliebe sogar die vorgefertigten Briefe persönlicher gestaltet und sitze seitdem jeden Abend stundenlang in meiner gelben Küche und unterschreibe jeden einzelnen.

Was sagt man denn über Menschen, die gelbe Küchen haben? Ich bin unwissend. Ich bin Engländer, vergiss das nicht. Hier gelten offensichtlich andere Regeln, denn noch nie hat mich jemand wegen meiner gelben Küche schräg angesehen. Würdest du mich bitte über die diesbezüglichen deutschen Regeln aufklären? Ansonsten muss ich die Kü­che neu streichen, und du weißt ja, wie beschäftigt ich bin.

Der Film ist keine Meisterleistung und meine Rolle ist auch wirklich nicht so besonders. Ich spiele einen Arbeitslosen und mein angeklebter Bart macht es auch nicht besser. Aber hey, ich bin im Kino zu sehen. Das trös­tet über vieles hinweg. Der Film heißt übrigens „Lost Times“ und ich fürchte, er wird nur in England gezeigt. Ich kann dir aber gerne eine Kopie schicken, wenn du ihn unbedingt sehen willst. Jeder findet ihn gut – bis auf mich. Aber du weißt ja, was man über Künstler sagt: Wir sind nie zufrieden mit dem, was wir geschaffen haben.

Solltest du jemals wegen einer deiner dummen und schamlosen Aussagen verhaftet werden, muss ich schweren Herzens den Gedichtband verkaufen, um dich aus deiner Notlage zu befreien. Falls ich dann nicht zu beschäftigt bin. Ich ärgere dich nur ein bisschen. Ich bin wirklich nicht böse, Marie, glaub mir.

Ich wünsche dir alles Gute!

Orlando

PS: Das Autogramm verkaufe ich nicht. Wer weiß, ob du mal berühmt wirst.

14. Dezember 1999

Lieber Orlando,

du ärgerst mich gern? Bist du ein kleiner Sadist? Das würde auch die gelbe Küche erklären.

Nein, im Ernst. Leute, die die Farbe Gelb mögen, gel­ten als optimistisch, idealistisch und aktiv. Bist du das? Wenn ich dir zu neugierig bin, dann sag es nur. Und wenn ich dir zu nervig werde, dann hast du einen bösen Brief frei. Sozusagen als Retourkutsche.

Das Bild von dir, wie du jeden Abend am Küchentisch hockst, tonnenweise Briefe um dich herum (ich hoffe, es sind Tonnen, es sind doch Tonnen?), und dir die Finger wund schreibst, amüsiert mich total. Und aus unerfind­lichen, verdrehten Gründen bin ich froh, dass das alles meine Schuld ist. Machst du mir ein Foto vom Chaos?

Ich würde diesen Film liebend gerne haben, allein schon, um dich mit Bart zu sehen. Warum magst du dein Werk nicht? Hast du dich nicht angestrengt?

Ja, ja, ich werde eines Tages berühmt sein. Das schaffst eher du, Mister Schwerbeschäftigt. Ich bin nur eine kleine Studentin, die davon träumt, mal zum Film zu kommen. Ein Traum, der sich jedoch sicherlich niemals erfüllen wird. Und nein, ich möchte nicht in deine Fußstapfen tre­ten. Ich würde viel lieber hinter den Kulissen arbeiten, denn obwohl ich mein Gesicht doch sehr zufrieden stel­lend finde, kann ich die Menschheit nicht mit meinen gruseligen Schauspielkünsten behelligen. Das überlasse ich denen, die es können und gelernt haben.

Ich hoffe, du lässt dir nicht wirklich einen Bart wach­sen.

Viele liebe Grüße

Marie

20. Dezember 1999

Lieber Orlando,

es ist kurz vor Weihnachten und ich kann dir wegen fehlender Antwort nicht mal böse sein. Das sind nur die Feiertage. Da bin ich immer so großzügig.

Ich schreibe dir auch nur schnell, um dir fröhliche Weihnachten zu wünschen und mich nach der Entwick­lung des Filmes zu erkundigen. Ich kriege hier ja mal wie­der gar nichts mit. Läuft er gut? Und was macht eigentlich das Theater? Und ist deine Küche immer noch gelb?

Ich hoffe, du hast ein paar schöne Feiertage mit deiner Familie, und rutsch nicht aus, wenn es ins neue Jahr über­geht.

Anbei eine Kleinigkeit zu Weihnachten. Bitte ver­scherble es nicht, okay?

Liebe Grüße

Marie

30. Dezember 1999

Liebe Marie,

vielen Dank für dein Geschenk. Ich habe mich wahnsinnig darüber gefreut.

Ich weiß, dass ich selber vorgeschlagen habe, die Ent­schuldigungen zu unterlassen, muss aber heute meinen Vorsatz noch einmal brechen. Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, dir vor Weihnachten noch zu schrei­ben.

Das Engagement im Theater ist ausgelaufen und irgendwie ist mir nicht danach, sofort ein neues Stück anzufangen. Ich brauche einen Tapetenwechsel. Ein paar Anfragen sind hier eingetrudelt, lauter Gastrollen. Alle fanden meinen Auftritt in „Lost Times“ so toll, aber wenn sie das wirklich ernst meinen, warum bieten sie mir dann diese blöden Rollen an? Das macht einfach keinen Sinn. Sie könnten mir ruhig etwas Spannenderes anbieten, eine Herausforderung vielleicht. Anscheinend traut mir nie­mand etwas zu. Stereotypen, nichts als Stereotypen. Und obwohl ich die Filmindustrie ungeheuer reizvoll finde, liebe ich das Theater einfach zu sehr. Dabei gibt es zurzeit auch dort nichts, was mich mit Freude erfüllen könnte.

Entschuldige, ich jammere dir die Ohren voll. Das ist bloß die aufkommende Enttäuschung darüber, dass sie mir keine Rolle in „Der Herr der Ringe“ angeboten haben. Ich hätte den Elben sicher genauso gut hinbekommen. Trotz­dem gönne ich es meinem Namensvetter. Er ist gut und wahrscheinlich liegt ihm danach die Welt zu Füßen.

Ja, „Lost Times“ war erfolgreich. Es hat die ziemlich geringen Erwartungen sogar so weit übertroffen, dass sie es ins Ausland verkaufen. Du könntest also eventuell im nächsten Jahr in den Genuss dieses Meisterwerkes kom­men. Der hässliche Typ mit zu viel Haaren im Gesicht bin dann ich. Gott, mittlerweile habe ich einen echten Hass auf diesen Film entwickelt.

Irgendwer hat mir erzählt, dass ich einen Manager brau­che, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich will, weil es mein Leben so ominös erscheinen lässt. Jeder redet darüber, welch tolle Karriere ich vor mir habe, und okay, das wollte ich ja auch, aber trotzdem ist es nun komisch, wo es angeblich so weit ist. Und wieder jammere ich. Ent­schuldige, Marie.

Ein Sadist bin ich nur, wenn ich einen spielen muss, und von optimistisch, idealistisch und aktiv bin ich Lichtjahre entfernt. Ich bin unentschlossen und hasse mich dafür.

Im Moment hocke ich übrigens in der gelben Küche am dunkelbraunen Küchentisch und habe die Tonnen von Briefen (was für Vorstellungen hast du genau von meiner Fanpost?) auf Seite geschoben, um dir zu schreiben. Ein Foto mache ich dir nicht, da kann ja jeder kommen. Außer­dem bin ich dazu nicht entsprechend gekleidet.

Leider konnte ich dir keine Kopie des Films besorgen. Ich frage mich, warum ich nicht mal ein einziges Exemplar bekommen kann. Ich spiele da mit und erhebe Einspruch! Mit denen arbeite ich nie wieder. (Vielleicht brauche ich doch einen Manager, der könnte dann solche Anfragen stellen und entsprechend unfreundlich nachhaken – eigent­lich eine brillante Idee.)

Wenn du zum Film gehst, dann bleib bloß hinter den Kulissen. Hätte ich mir nicht jahrelang den Allerwertesten dafür aufgerissen, um vor der Kamera zu stehen, würde ich es ebenso machen.

Vielleicht fällt deiner feinen weiblichen Spürnase auf, dass ich im Moment frustriert bin. So sind wir Künstler. Nie zufrieden. Dabei sollte ich mich doch über dein nettes Kompliment freuen. Das tue ich auch.

Weihnachten war sehr ruhig dieses Jahr. Ich konnte endlich Zeit mit meiner Familie verbringen, was wie immer zu kurz kam in letzter Zeit und deswegen umso schöner war.

Ich kann es nicht fassen, dass ich dir solch einen langen Brief schreibe. Fühl dich bitte nicht erschlagen und verzeih es einem schlechten Schauspieler, dass er dich mit seinen Problemen nervt.

Liebe Grüße

Orlando

PS: Morgen streiche ich die Küche um. In Weiß, das ist wenigstens neutral.

2004

Brian

Obwohl der Ruf von Tony Marcello nicht der Beste war, kaufte Brian Lynch gern bei dem Italiener aus Lon­don. Tony machte den meisten Profit auf dem Schwarz­markt, überzeugte aber in puncto Qualität und Zuverlässigkeit bei seinen legalen Geschäften, und Brian konnte und wollte nicht wählerisch sein. Solange mit den Unterlagen alles in Ordnung war, war er bereit, Tonys ille­gale Machenschaften zu ignorieren. Nicht ein einziges Mal hatte Tony versucht, Brian Hehlerware anzubieten. Ob das daran lag, dass er ihn als Kunden respektierte, oder weil ihm die Gerüchte über Brian zu Ohren gekommen waren, machte keinen Unterschied. Beides erfüllte seinen Zweck.

Tonys Lagerraum war klein und unauffällig, sein Büro ein wackeliger Tisch, auf dem jedoch ein hochwertiger und teurer Laptop stand. Die Uhr an seinem Handgelenk hatte sicher einen Tausender gekostet und seine Schuhe ließ er maßanfertigen. Tony Marcello hatte nach dem Untergang der McLeaf-Dynastie mit bluthundartiger Zielsicherheit und einem unschlagbaren Gespür für gute Gelegenheiten seinen Platz in der Branche gefunden und kontrollierte mittlerweile die Docks mit fein säuberlich ausgewählten Mitarbeitern und einem Netzwerk aus Spionen und Kanal­ratten. Er handelte neben Waren auch erfolgreich mit In­formationen und besaß mittlerweile in fast jeder Branche wenigstens einen Kontaktmann. Gerüchten zufolge hatte er sogar einen Cousin, der für die Regierung arbeitete, und einen Mann am Flughafen, der trotz hoher Sicherheitsbe­stimmungen so manch fragwürdige Lieferung durch den Zoll bringen konnte.

Nichts davon war für Brian relevant. Seine Waren ka­men legal aus Deutschland, waren verzollt und bezahlt und kosteten ihn trotz allem nur die Hälfte des Marktpreises. Auch hier war Tony ein nützlicher Geschäftspartner.

„Zufrieden?“, fragte der Italiener, nachdem Brian die Kisten methodisch durchgegangen war, um Schäden an den feinen Porzellanfiguren auszuschließen.

„Alles okay so weit.“

Tony nickte und zog einen weiteren Karton hervor, den er auf den Tisch hievte. „Das hier ist von einem Händler in Dover. Ich hab sofort an dich gedacht.“

Die kleine Truhe, die in einem Berg von Holzwolle ver­steckt war, funkelte trotz der spärlichen Beleuchtung wie ein Weihnachtsbaum am Heiligen Abend. Brian musste schmunzeln. Manchmal war es schon fast beängstigend, wie gut Tony sich den individuellen Geschmack seiner Kunden merken konnte.

„Legal?“, fragte er.

Tony fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. „Selbst­verständlich. Mit Rechnung und allem. Sonst reißt du mir doch eh den Kopf ab. Oder Schlimmeres“, murmelte er wie zu sich selbst.

Brian versuchte, das selbstgefällige Grinsen nicht zu übertreiben. „Gekauft.“ Er klappte den Karton wieder zu und stellte ihn zu seinen anderen Kisten, als sein Blick an etwas hängenblieb. „Und was ist das?“

Oben auf einer der Holzkisten stand eine Box. Sie wäre Brian normalerweise zwischen all den anderen Waren nicht aufgefallen, aber das Schloss war zerstört und an den Sei­ten blätterte die gelbe Farbe bereits ab.

Tony zögerte einen Moment. „Ich glaube nicht, dass du an so was Interesse hast.“ Er sprach langsam, fast beiläu­fig, wohlwissend, dass er genau damit Interesse wecken würde.

„Wieso das? Was ist es?“

Tony zuckte die Schultern. „Ein Haufen privater Briefe von diesem Chase. Du weißt schon, aus den Filmen.“ Als Brian ihn nur schweigend ansah, fuhr er fort: „Die Sturmgeborenen? Komm schon, Brian, das kennt jeder, das lief im Kino.“

Brian sagte immer noch nichts. Natürlich kannte er Or­lando Chase. Es gab bestimmt niemanden in England, der noch nicht von Orlando Chase gehört hatte. Der Junge war praktisch über Nacht berühmt geworden und zierte täglich die Titelseiten der Klatschmagazine. Was Brian zum Schweigen brachte, war die Fassungslosigkeit darüber, dass Tony mit den privaten Briefen des Mannes Geld machen wollte.

„Woher hast du die? Geklaut?“

Tony zuckte unmerklich zusammen. „Ich? Niemals. Die hab ich gefunden. Im Müll.“

Brian schüttelte den Kopf. Der letzte Ort, an dem man Tony Marcello suchen würde, war ein Abfallcontainer. „Wo, vor seinem Haus?“

Tony lachte auf. „Quatsch. Die gehörten meiner Ex. Die hat sie weggeworfen. Die lagen bei ihr ewig rum. Grace war mal mit dem befreundet oder so. Vielleicht hat sie ihn auch gevögelt, was weiß ich denn. Auf jeden Fall hat sie sie entsorgt. Eine Schande, so was, die sind echt was wert bei dem Hype, den sie um den Typ machen.“

Brian schüttelte erneut den Kopf und wandte sich angewidert ab. Geld mit den privaten Dingen berühmter Leute zu machen, ging ihm gegen den Strich. Tony ging ihm plötzlich auch gegen den Strich. Er sammelte seine Sachen zusammen, bezahlte sie und wartete auf seine Un­terlagen. Während Tony sorgfältig die Papiere ordnete, fiel Brians Blick erneut auf die gelbe Box mit dem zerbroche­nen Schloss. So klein und unscheinbar, und doch so wert­voll. Er dachte an Orlando Chase und seine Frau, an die kleine Tochter, die sie hatten und die sie wie eine Löwen­familie vor der Presse verteidigten. Normalerweise beschäftigte Brian sich nicht mit Klatschgeschichten, aber seine Tochter liebte die Filme. Brian bekam die Details über das Leben der Familie buchstäblich zum Frühstück serviert. Mit Leidenschaft verteidigte Isa fast täglich die Privatsphäre der Chases und regte sich über die skrupello­sen Klatschreporter auf.

Nachdenklich starrte er die Box an. Für Isabella, dachte er dann.

„Hey, Tony“, rief Brian leise. „Ich schlag dir einen Deal vor.“

Der Kopf des Italieners schnellte augenblicklich in die Höhe. „Ich höre.“

„Du gibst mir diese Box und was du sonst noch so an privaten Dingen von Orlando Chase und seiner Familie hier rumfliegen hast.“

Tony lachte auf. „Aber sicher kannst du sie haben. Ich mach dir sogar einen super Preis. Die von der Presse …“

Brian unterbrach ihn. „Im Gegenzug kaufe ich nach diesem Zwischenfall weiterhin bei dir und als besonderes Extra breche ich dir für deine Dreistigkeit heute nicht beide Beine.“

Das Lächeln gefror auf Tony Marcellos Lippen. Er schluckte hörbar. „Wie bitte?“

Brian zeigte ihm die Zähne. „Du hast mich schon ver­standen, Tony.“

Maureen

Den Auftrag, die gelbe Box samt Inhalt an die Familie Chase weiterzuleiten, bekam Maureen MacMillan an einem Freitag vor der großen Geburtstagsfeier ihre neunzigjähri­gen Großmutter und dem dreitägigen Urlaub, den sie sich extra dafür genommen hatte. Feste dieser Größenordnung dauerten in der Familie MacMillan mindestens zwei, wenn nicht drei Tage, und wenigstens ein Tag war nötig, sich wieder halbwegs in Richtung Alltag zu orientieren, den Restalkohol auszuschwitzen und mit der Packung Magen­tabletten Freundschaft zu schließen.

Hinzu kam, dass Maureen ihrem Kollegen Ian Holt nicht von ihrem Schreibtisch bis zur gläsernen Bürotür traute und sie seine verdeckt-neugierigen Blicke in Rich­tung Box bemerkt hatte. Aufträge von Brian Lynch waren meist mit einem Hauch von Mysterium verbunden, obwohl dieser hier solide und einfach, wenn auch ein wenig selt­sam schien. Doch in der Zeit, in der sie Brian mittlerweile kannte, hatte Maureen gelernt, nicht allzu viele Fragen zu stellen. Ihre einzige Bedingung war, dass er sie in nichts Illegales verwickelte, und bisher hatte er sich stets an diese Abmachung gehalten.

Das lange Wochenende und ihr Misstrauen ihrem Kollegen gegenüber verleiteten Maureen dazu, diesen neuen Auftrag mit nach Hause zu nehmen. Normalerweise machte sie so etwas nicht. Tatsächlich war es ihnen vertraglich untersagt, Kundenunterlagen aus dem Büro zu entfernen, aber jeder tat das, wenn der Fall außergewöhn­lich war, der Klient besonders wichtig oder wenn eine Frist nach dem Wochenende lauerte. Ein schlechtes Gewissen hatte Maureen trotzdem, weswegen sie den Moment abwartete, in dem Ian auf der Toilette verschwand und ihre Sekretärin sich einen Kaffee holte, ehe sie samt Box in Richtung Tiefgarage verschwand.

Und so landete die Box in Maureens Wohnzimmer, ne­ben der Couch, wo sie zusammen mit einem Stapel Akten immer noch stand, als Maureen am Montag nach der ausgiebigen Feier gegen Mitternacht einen stechenden Schmerz in der Brust verspürte.

Als ihr Sohn Luke am Dienstag immer noch nichts von seiner Mutter gehört hatte, fuhr er zu ihrer Wohnung und fand Maureen zwischen der Couch und dem Wohnzimmertisch, eine Hand in Richtung Telefon ausge­streckt, um den Anruf zu machen, der ihr vielleicht das Leben gerettet hätte.

Sechs Wochen später waren Maureens Habseligkeiten fein säuberlich in einer Lagereinheit verstaut und die Woh­nung aufgelöst. Luke hatte die gelbe Box nicht geöffnet. Er hatte beschlossen, sich mit den privaten Angelegenheiten seiner Mutter an einem anderen Tag auseinanderzusetzen, und sie zu den anderen Kisten gepackt.

Als Brian Lynch von Maureens Tod erfuhr, versuchte er herauszufinden, was aus seiner Box geworden war. Die Kanzlei versicherte ihm, dass Miss MacMillan einen sol­chen Auftrag nicht offiziell dokumentiert habe und dass man ihm nicht helfen könne. Allerdings bot man ihm an, seine Anfrage an ihren Sohn weiterzuleiten.

Luke MacMillan hatte nach dem zehnten Anruf der Kanzlei bezüglich eines Mandanten die Nase voll, sich mit deren Problemen auch noch herumzuschlagen, und feuerte sein Telefon voller Wut und Trauer in die Themse.


2000

If anything was ever meant to be then this is now

I found you and you found me.

We do not stand in each other’s way

but wander our own paths

Living separate lives

we still tie our loose ends

at the end of the day

We thrive by being carefree

within our caring

by being independent

within our certainty of each other.

There will always be a you without me

and there will always be a me without you

but there sure is an us between the lines

somewhere

You know how to survive alone

and I know how to survive alone

but together we survive better.

And if anything was ever meant to be then this is now

We

– Halmond Jackson –

5. Januar 2000

Lieber Orlando,

Ich hoffe, dein Frust hat sich mittlerweile verzogen. Das Letzte, was eine halb irre Frau wie ich brauchen kann, ist es, gepeinigte Schauspieler aufzumuntern. Für solch ominöse Aufgaben bin ich schlicht und einfach nicht qualifiziert. Aber weil du es bist, versuche ich mich mal in dieser Disziplin.

Dein Leben hört sich für mich wahnsinnig aufregend an und wenn ich du wäre, würde ich alle Chancen nutzen, die ich kriegen könnte. Du brauchst einen Manager – wa­rum nicht? Klingt doch sehr cool. (Ich bräuchte im Üb­rigen auch einen, allein, um das Chaos in meinem Kleider­schrank zu organisieren.) Habt ihr zwei euch denn mittler­weile aneinander gewöhnt?

Wenn du die angebotenen Rollen nicht magst, dann nimm sie nicht an. So einfach ist das. Frauenlogik, weißt du? Keiner kann dir vorschreiben, was du zu tun hast, und wenn du das Theater dem Film vorziehst – bitte! Der Film bringt dich doch früher oder später bloß nach Hollywood, und da soll es ja so was von öde sein. Und die ganzen Stars gehen einem sicher irgendwann auch auf den Keks. Von daher lass deinen mir völlig unbekannten Namensvetter ruhig nach Mittelerde wandern. Soll er sich doch mit den großen Schlachten rumschlagen. Was meinst du, wie an­strengend das ist? London im Regen würde ich dem sicher auch vorziehen. Entschuldige, mein Sarkasmus ist ebenso dreist wie ich und rennt ungezähmt in der Gegend herum.

Mach dir mal keine Sorgen wegen „Lost Times“. Ich werde mir das Ganze objektiv ansehen und dir meine Mei­nung dann gnadenlos vor die Füße pfeffern. Du kennst mich. Ich kann das gut.

Na schön, wenn ich von dir nicht freiwillig ein Foto be­komme, dann muss ich mir eben eine passende Drohung überlegen. Wart’s nur ab. Meine feine weibliche Spürnase wird mir in diesem Fall sicher überaus hilfreich sein.

Mein Weihnachten war so wie deins: ruhig und familiär. Doch jetzt geht der Alltag wieder los und bald sehe ich meinen Abschlussprüfungen entgegen. Die Arbeit, die noch vor mir liegt, lässt mich nach einer dunklen Ecke Ausschau halten, in der ich mich im Falle des Falles wie ein Angsthase fix verkriechen kann. Du siehst, ich reihe mich nahtlos in die lange Schlange der Vielbeschäftigten ein und kann mir endlich ein Bild davon machen, wie es dir geht. Und das, obwohl meine Küche jetzt schon weiß ist. Weiß ist neutral, aber auch langweilig, mein Lieber, von daher lass solchen Unsinn sein. Ich mag dich lieber inaktiv in einer aktiv-farbenen Küche als inaktiv in einer neutralen. Sag mal, hat deine Wohnung auch noch mehr Zimmer?

Ich wünsche dir ein schönes, zufriedeneres und erfolgreiches Jahr 2000.

Viele liebe Grüße

Marie

13. Januar 2000

Liebe halb irre Marie,

ich habe deinen weisen Rat befolgt und die Küche so gelassen, wie sie ist. Stattdessen habe ich den Rest der Wohnung nun auch gelb gestrichen (ja, ich habe mehr als nur ein Zimmer). Was bedeutet das jetzt? Gelte ich nun als sadistischer, aktiver Optimistengelbling? Hilf mir mal, Marie! Was für ein Mensch bin ich jetzt?

Überraschenderweise habe ich mich wirklich an meinen Manager gewöhnt. Das heißt, meine Managerin. Meine Schwester hat allerdings eine starke Aversion gegen sie entwickelt. Ich weiß wirklich nicht, warum, obwohl ich auch das Gefühl habe, dass Esther (meine Managerin) völ­lig durchgedreht ist. Sie rennt den ganzen Tag wie ein kopfloses Huhn herum und telefoniert andauernd. Tau­send Dinge will sie für mich übernehmen und ich traue mich nicht, ihr zu widersprechen.

Parallel zu der Anschaffung meiner Managerin habe ich mir einen Hund zugelegt. Ich weiß, wahrscheinlich der unpassendste Augenblick im Leben eines aufstrebenden Stars (bemerke bitte die Allüren), aber mit ihm bin ich we­nigstens nicht mehr so allein. Ich bin ein armer, einsamer Mann. Esther bekam einen Schreikrampf, als sie den klei­nen Kerl gesehen hat. Jetzt redet sie nicht mehr mit mir. Ich bin untröstlich.

Mein Hund heißt Maurice und ist, glaube ich, ein reinrassiger Straßenpinscher. Er ist klein und süß. Perfekt für mich.

Mein Leben ist wirklich total aufregend. Es ist so wun­derbar, stundenlang in einem heißen Studio zu warten, um vorsprechen zu können. Glaube mir, darauf kann ich gern verzichten.

Etwas Gutes hat Esther jedoch bewirkt: Ich habe in den nächsten paar Wochen ein paar Szenen in der Serie „Hopelessly Devoted“ – ein Renner bei uns. Ich bin zwar kein Riesenfan, aber Esther hat mich überzeugt, dass ich mein Talent im Theater vergeude, meine ganze Ausbildung ja endlich mal zu etwas führen muss und dass es nichts Besseres gibt als diese Serie. Sie ist sozusagen DAS Sprungbrett. Komisch nur, dass ich noch keinen der dort aufgetretenen Schauspieler je bei einem größeren Projekt gesehen habe. Hm. Womit ich mich wohl als unregelmäßi­ger Zuschauer dieses Unsinns oute. Ich schwöre, das liegt nur daran, dass die Serie immer dann läuft, wenn ich ko­che. Mir kann einfach nichts den Appetit verderben.

Für mich völlig überflüssig, für Esther aber absolut not­wendig, war auch die Autogrammkarten-Aktion. Montag­morgens um sechs reißt sie fast meine Tür aus den Angeln, stürmt in meine Wohnung und verkündet, dass ich einen Fototermin habe – jetzt! So ein Unsinn! Aber immerhin habe ich jetzt ein halbwegs vernünftiges Foto von mir, das ich dir schicken kann. Allerdings tausche ich nur gegen eins von dir. Ich plane, es an meinen Kühlschrank zu pin­nen, damit du „Hopelessly Devoted“ mit mir schauen kannst. Nicht, dass das ein Vergnügen wäre.

Aber immerhin bleiben mir bei denen die großen Schlachten erspart. Das hoffe ich zumindest.

Ich hoffe auch, dass du zwischen dem Stress der Ab­schlussprüfungen (wofür eigentlich? Was bist du, wenn du fertig bist?) noch Zeit findest, den schönen Dingen des Lebens nachzugehen.

Viele liebe Grüße aus London

Orlando